Interview mit Asienforscher und Buchautor Kai Ehlers
Kulturkampf in der Mongolei?

„Die Jurte ist für den westlichen Menschen so etwas wie ein Jungbrunnen, der ihn zu seinen Ursprüngen zurückführt“: Ein Gespräch mit Kai Ehlers, Asienforscher und Autor des Buches „Die Zukunft der Jurte – Kulturkampf in der Mongolei?“.

Im laufenden Jahr – 2006 – finden die Feierlichkeiten „800 Jahre Mongolei“ statt. Was bedeutet dieses Jubiläum, was genau hat sich im Jahr 1206 ereignet?

Ehlers: 1206 wurde Temüdschin auf einem großen Kuriltai, einer großen Versammlung der nomadischen Völker, am Fluss Onon unter dem Namen Tschingis Khan, auf deutsch: „ozeangleicher Herrscher“, zum Großkhan der zentralasiatischen Steppenvölker erhoben. Mit diesem Datum war der Kampf um die politische Einigung der mongolischen Steppen-Stämme abgeschlossen. Tschingis Khan ordnete das entstehende Reich nach den strengen Regeln der Jurte, in der alles seinen festen Platz und jeder Mann, jede Frau, jedes Kind seine oder ihre Aufgabe hat. Die Übertragung der Jurtenordnung auf die politische Ordnung der mongolischen Stämme kam natürlich einer Revolution der nomadischen Stämme gleich, die ganz neue Elemente hervorbrachte: Tschingis Khan führte eine allgemeine Wehrpflicht ein. Er unterteilte seine Armee auf  funfundneunzig Tausendschaftsführer, deren Truppen nach dem Dezimalsystem bis in die kleinste Einheit hin untergliedert waren. Treue bis in den Tod, absoluter Gehorsam, Verbot des Plünderns waren die Regeln, deren Einhaltung Tschingis Khan forderte. Einmal durch Akklamation gewählt, war er Herrscher über Leben und Tod. Aber mit dem System der Tausendschaften organisierte Tschingis Khan nicht nur den Kriegsdienst, sondern auch die sozialen Verhältnisse in der Steppe. Von Stund an war nämlich nicht mehr die Blutsverwandtschaft die Basis aller sozialen Beziehungen, sondern eine künstliche Verwandtschaft – die militärische. Das war zugleich ein Bruch mit der traditionellen Ordnung der Nomaden. Entscheidend war nun nicht mehr, was am Jurtenherd beschlossen wurde, sondern der Wille des Khans, der sich in der Yassa, einer Gesetzgebung ausdrückte, die für alle Stämme des Mongolenreiches erstmalig verbindliche Regeln schuf. Auch in der Yassa fand die Strenge des Jurtenlebens ihren Ausdruck: Grundzug der Yassa ist Disziplinierung, Beherrschung der Leidenschaften und ein strenges – heute würden wir sagen ökologisches – Reglement im Umgang mit dem natürlichen Umfeld: Vorschriften zur Beweidung, zum Umgang mit den Tieren, zur Reinhaltung von Quellen und Flüssen u.a.m.

Aus der Einigung der zentralasiatischen Hirtenvölker erwuchs ein Impuls zur Eroberung des Restes der Welt. Wer sich nicht unterordnen wollte, wurde vernichtet. Wer sich ergab, wurde integriert. Innerhalb des so entstehenden größten Reiches der Weltgeschichte, unter der Pax Mongolika, herrschte religiöse Toleranz, sofern die Autorität des Khans anerkannt wurde. Die Anerkennung drückte sich in der Zahlung des Zehnten und in der Leistung von Militärdiensten aus; im übrigen galt Gedankenfreiheit. In dieser Weise galt das Siegel des Großkhans von den Küsten Chinas bis an die Grenzen Europas. Tschingis Khan war, so könnte man sagen, der erste Globalisierer, der die östliche und die westliche Hälfte der Welt miteinander verband. Wenn in der kleinen mongolischen Republik heute der Ereignisse des Jahres 1206 gedacht wird, schwingt bei manch einem sicher ein Fünkchen Hoffnung mit, die Mongolei könnte erneut zu weltweiter Bedeutung gelangen – dieses Mal jedoch ganz sicher nicht durch ihre militärische Macht, sondern durch ihre Bedeutung als neutraler Raum zwischen China und Russland und als eine der letzten ökologischen Ressourcen des Globus.

Im Mittelpunkt Ihres Buches „Die Zukunft der Jurte“ steht die Jurte als Kultur- und Lebensraum. Wer lebt heute in der Jurte, welche Bedeutung hat sie für die mongolische Bevölkerung, für welche Konzeption von Leben steht sie?

Ehlers: Die Jurte ist die traditionelle Wohnstätte der mongolischen Hirtennomaden von alters her. Gut zwei Drittel der ca. 2,5  Millionen Einwohner zählenden mongolischen Bevölkerung leben heute in Jurten. Auch in Ulaanbataar, wo inzwischen fast die Hälfte der Bevölkerung wohnt, und in einigen wenigen kleineren Orten des Landes leben die Menschen nach wie vor in Jurten. Sie breiten sich rund um die Innenstadt Ulaanbaatars oder die Kerne anderer kleiner Orte aus.

Für das Leben in der Steppe ist die Jurte auch heute die optimale Heimstatt, die den Gegebenheiten des nomadischen Lebens durch die Leichtigkeit, mit der sie auf- und abgebaut werden kann, optimal entspricht. Das gilt selbst für halbnomadische Verhältnisse, also wenn Menschen im Winter ins Quartier ziehen, um sich und die Tiere vor den eisigen Winden zu schützen, aber mit dem Frühjahr wieder hinausziehen in die Steppe. Die Jurte bietet alles, was die Hirtenfamilie braucht: Schutz vor Sonne und Nachtkälte, den Herd für die Familie und als sozialer Treffpunkt, Schutz vor wilden Tieren usw.; zugleich ist sie leicht zu bewegen, wenn der Weideplatz gewechselt werden muss. Mit dem Wärme- und Frischluftkreislauf, der durch den offenen Dachkranz entsteht, bietet die Jurte einen optimalen Raum, in dem der Mensch gut leben kann. Ihre runde Gestalt mit dem zum Himmel offenen Dach lässt eine lebendige, naturbezogene Aura entstehen, in der, um es einmal so zu formulieren, der Mensch nicht aneckt, sondern sich rundum wohl fühlen kann. Auch sanitäre Fragen sind bei der Weite der Steppe kein Problem. Kurz, ihre Funktion als Heimstatt für das nomadische Leben wird die Jurte auch in Zukunft haben. Es gibt keinen sinnvollen Ersatz.

Anders ist es in der Stadt, in die viele Menschen ziehen, weil sie unter den Bedingungen des Marktes mit dem nomadischen Leben nicht mehr zurechtkommen. Sie verkaufen ihre Tiere und kommen mit der Jurte in die Stadt, um dort Arbeit zu suchen. Was draußen Freiheit war, wird hier zum Gegenteil: Es beginnt mit den sanitären Einrichtungen. Wo nicht die Weite der Steppe vor der Jurtentür liegt, sondern wenige Meter weiter schon die nächste Jurte, da wird das Besorgen von Wasser, Waschen, Kochen, Abfallbeseitigung, Toilette usw. zum Problem, in Extremfällen zur Kloake und zum Slum. Es fehlen die Tiere, es fehlt die Weite, vielen fehlen auch die Arbeit und die Lebensperspektive. Unter solchen Umständen wird die Jurte zum Synonym für Elend. So möchte niemand leben; Menschen, die in solchen Jurten leben, sehnen sich nach „zivilisierten“ Wohnungen. Die aber können nicht in ausreichendem Maße und nicht schnell genug gebaut werden. Aus all dem folgt das Problem einer Urbanisierung, die das Gleichgewicht des Landes zerstört.

Das Bemühen der mongolischen Politik zielt daher darauf, einerseits Häuser zu bauen, andererseits die Jurte wieder zu einer Wohnstatt zu machen, in der zu leben angenehm ist. Dies ist gleichbedeutend mit dem Versuch, neue Formen des halb-nomadischen Wirtschaftens zu entwickeln, die das Leben draußen wieder lebenswert machen. Es ist klar, dass dies nur im Rahmen eines langfristig angelegten Programmes gelingen kann.

Welche Zukunft hat die Jurte unter den heutigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen? Warum sprechen Sie im Untertitel Ihres Buches auch von „Kulturkampf“?

Ehlers: Nun, die Jurte hat dann eine Zukunft, wie ich schon sagte, wenn nomadisches oder auch halbnomadisches Leben eine Zukunft hat. Welche Zukunft das ist, ist zur Zeit in der Mongolei sehr umstritten. Seit der „Revolution“ von 1992 tobt in der Mongolei die Auseinandersetzung, welchen Weg man künftig gehen solle – den einer forcierten Industrialisierung mit Hilfe ausländischer Gelder und durchgeführt durch ausländische Gesellschaften; oder ob man die traditionelle nomadische Wirtschaft entwickeln solle und ob das möglich sei. Von „Kulturkampf“ spreche ich deshalb, weil dies nicht nur eine Frage sachlicher wirtschaftlicher Erwägungen ist, sondern eng mit der Frage verbunden ist, wie man leben möchte, wie das Land nach 70 Jahren realsozialistischer Entwicklung seine Identität neu bestimmt. Will man zurück in eine traditionelle nomadische Wirtschaft? Will man zurückgreifen auf traditionelle Lebensvorstellungen, die mit einer solchen Wirtschaft verbunden sind? Oder gibt es ein solches „Zurück“ nicht, besteht die einzige Chance vielleicht darin, die aus den Industrieländern des Westens kommenden Wertvorstellungen einer modernen Gesellschaft zu übernehmen und das Land nach diesen Vorstellungen zu modernisieren? Die Diskussion um diese Fragen bestimmte den internationalen Kongress der Mongolenforscher und -forscherinnen von 1997, ebenso den von 2002. Im Jahr 2006 wurde die Frage unter die Überschrift „800 Jahre mongolische Staatlichkeit“ gestellt. Rund 600 Gäste des Kongresses besannen sich auf Tschingis Khan als den Stifter eines Kulturraumes, der erstmals den Osten mit dem Westen verband. Die mongolische Regierung unterstrich das Ereignis durch den Erlass einer Amnestie. Durch die aufwendigen Feierlichkeiten wurde die Grundfrage der zukünftigen Orientierung des Landes jedoch nur verdeckt.

Was kann die westliche Welt von der Kultur der Jurte lernen?

Ehlers: Der mongolisch-tuwinische Schriftsteller Galsan Tschinag hat für den Unterschied zwischen dem Westlichen und dem Nomadischen (nicht dem Östlichen!) die Begriffe des Runden und des Eckigen gewählt. Besser kann man es nicht treffen: Die Jurte ist rund; es gibt in ihr keine Ecken, an denen man sich stoßen könnte, ebenso wenig solche, in denen irgendetwas vergessen herumliegen könnte. Die Jurte trennt das Wohnen und Leben des Menschen nicht von seiner Umgebung ab, sondern verbindet ihn damit. In der Jurte wird das Wetter, werden Tag und Nacht, werden generell die natürlichen Kreisläufe des Lebens unmittelbar erlebt. Die Jurte macht den Wechsel von Innen und Außen unmittelbar erlebbar, insofern sie den Kreis des Lebens sehr eingrenzt und behütet, gleichzeitig aber nach außen hin sehr offen und durchlässig ist. Die Jurte lebt vom Prinzip des Minimalismus, Pragmatismus und der Mobilität. Das vermittelt dem Menschen ein Lebensgefühl der Leichtigkeit, des Provisorischen und der Vergänglichkeit. Man kommt dem Tod und dem Leben näher als in einem Haus, das für Ewigkeiten gebaut scheint. Gleichzeitig ist die Jurte streng nach Gesetzmäßigkeiten aufgebaut, die mit der nach Süden gerichteten Tür, mit dem Dachkranz, mit den Dachstangen, dem Filz usw. beginnen, sich mit der Zuweisung von Plätzen für die Männer, die Frauen, die Gäste usw. fortsetzen und mit der rituellen Bedeutung all der Sitten und Gebräuche in der Jurte enden. Dies alles lässt die Jurte für den Westen zu einem Symbol der Beweglichkeit, der Veränderung und in der gegebenen Situation unserer industriellen Krise des Aufbruchs werden, während sie gleichzeitig traditionelle Werte in Erinnerung bringt. Die Jurte ist damit für den westlichen Menschen so etwas wie ein Jungbrunnen, der ihn zu seinen Ursprüngen zurückführt und ihn zwingt, aufs Neue darüber nachzudenken, warum er lebt, wie er lebt.

 

Kai Ehlers

Die Zukunft der Jurte

Kulturkampf in der Mongolei?

Gespräche in Ulaanbaatar mit Prof. Dr. Dorjpagma Sharav und Dr. Ganbold Dagvadorj 

R. Mankau Verlag
1. Auflage Okt. 2006

14,95 Euro

220 S.

ISBN 3-938396-01-6


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